Fall 1: „Westberliner“
Alter zur Zeit des Mauerfalls: 27 Jahre
Wohnort am 9.11.89: Berlin - Neukölln
Wohnort heute: Berlin - Schöneberg

Wie hast du von der (möglichen) Maueröffnung erfahren?
Wie der Zufall es so will, hatte ich nachmittags „live“ im DDR Fernsehen die Presskonferenz gesehen, in der Günther Schabowski die Genehmigung von Ausreisen verkündet hat und auf Nachfrage eines Journalisten, ab wann das denn gelten solle, nach kurzem Zögern mit „ab sofort“ geantwortet hatte. Ich war allerdings der Überzeugung, etwas falsch verstanden zu haben, weil unter den Journalisten so gar keine richtige Reaktion wahrzunehmen war. Ich dachte, wenn er das wirklich gesagt hätte, hätte doch ein Tumult entstehen müssen. So habe ich mich dann erst einmal auf den Weg zur Arbeit gemacht.

Erinnerst du dich, wo du am 9.11.89 warst?
Sehr gut. Nachdem wir im Radio von der tatsächlichen Maueröffnung gehört hatten, haben wir unsere Einrichtung (Suchtberatungsstelle) geschlossen und sind mit unseren Klienten zur Oberbaumbrücke gefahren. Dort war schon jede Menge Grenzverkehr und die ersten Abzocker hatten sich schon breit gemacht, um z.B. überteuerte Bananen zu verkaufen. Einer spontanen Eingebung folgend haben ein Kollege und ich beschlossen, nach Ostberlin zu gehen. Während also jede Menge Leute über die Brücke in den „Westen“ kamen, sind auch immer mehr Leute den umgekehrten Weg gegangen. Die Grenzer waren von der Situation einfach völlig überfordert, standen da zwar noch, aber reagierten gar nicht. Dennoch war uns auch immer noch mulmig zumute. Wir hatten nicht mal Ausweise dabei und was würde passieren, wenn die Grenze wieder geschlossen wird? Gefangen im Osten? Irgendwie war sich auch keiner so richtig sicher, dass alles gewaltfrei bleibt. Aber trotzdem wollten wir „dabei sein“, auch wenn wir die ganze Dimension dieses historischen Moments noch nicht wirklich erfassen konnten.

In den Wochen vor dem 9.11.89 stieg ja die „Unruhe“ in der DDR, was war deine Vermutung, wie sich die Situation entwickelt?
Wir waren in Westberlin ja ziemlich nah dran. Aufgrund der Entwicklung in der Sowjetunion war ich eigentlich recht optimistisch, dass zumindest nicht wieder die Panzer auffahren. Allerdings hätte ich nie mit der Entwicklung gerechnet, die tatsächlich eingetreten ist. Ich bin davon ausgegangen, dass es noch ein paar Bauernopfer geben wird, das Politbüro abgeschafft wird und eine vorsichtige Öffnung vorangebracht wird. Dass sich ein Staat so schnell zur Selbstaufgabe entschließt und das auch noch von den internationalen Kräften so akzeptiert wird, war für mich undenkbar.

Wann warst du ab 9.11.89 das erste Mal im „anderen Teil Deutschlands“, hast du daran besondere Erinnerungen?
Wenn man von dem schon beschriebenen Kurzbesuch am 9.11.89 absieht, muss ich gestehen, dass ich wohl die nächsten 2-3 Jahre gar nicht im ehemaligen Ostberlin oder der ehemaligen DDR war. Irgendwie war mir die Situation suspekt, das „kuschlige“ Westberlin war in den letzten Jahren mein Zuhause geworden und irgendwie ging das kaputt. Für mich war die DDR eben Ausland, ich kannte es nicht anders und brauchte einige Zeit, mich daran zu gewöhnen, dass da etwas zusammenwachsen sollte.

Hat sich dein persönliches Leben unmittelbar nach dem 9.11.89 geändert bzw. wann fanden für dich wichtige Veränderungen statt?
Zunächst fallen mir da ganz banale Dinge ein: Ich konnte in Neukölln praktisch nicht mehr einkaufen. An meinem „Stammsupermarkt“ standen außen schon riesige Schlangen von Menschen, die darauf warteten, dass ein Einkaufswagen frei wurde. Direkt daneben an der Bank hunderte Meter Schlange, um das „Begrüßungsgeld“ in Empfang zu nehmen. Ich habe damals im nördlichen Charlottenburg gearbeitet, dort war davon kaum etwas mitzubekommen, also habe ich eben dort eingekauft. Ansonsten ging mein Leben eher weiter wie vorher. Spürbar wurde allerdings dann die Reduzierung und der Wegfall der Berlin-Zulage, zusätzlich dann die Einführung des Solidaritätszuschlages, was die Einkommenssituation vieler Westberliner nachhaltig verschlechtert hat.

Hattest du Ende 89 /Anfang 90 Vorstellungen, wie sich die politische Situation entwickeln wird?
Im Nachhinein auf jeden Fall keine, die der späteren Realität entsprochen hatten. Ich bin fest von der weiteren Existenz zweier deutscher Staaten ausgegangen. Wie viele andere hatte auch ich überlegt, ob mir etwas einfällt, wie man die aktuelle Entwicklung geschäftlich gewinnbringend nutzen kann. Ich bin sehr froh, in die Schnapsidee, die mir kam, nicht investiert zu haben. Die politische Entwicklung hätte sie sofort hinweggefegt. Eine „Ferien-Wohnungstausch-Börse Ost – West“ klingt heute völlig absurd. Damals hätte man sich vorstellen können, dass so etwas zu einer kleinen Annäherung der Menschen in den beiden Deutschlands hätte beitragen können.